Regen und Lernen – der September im Gracy Illam Hostel
Man spürt in Kuppayanallur allmählich den Beginn der Regenzeit, fast jeden Abend gibt es einen kleinen Schauer, ab und zu gewittert es auch sehr stark. Von vielen Bäumen brechen dabei große Äste ab, was sehr gefährlich sein kann.
Die Stromversorgung ist an solchen Tagen fast dauerhaft gestört. Vor ein paar Tagen ist der Strom im Hostel komplett ausgefallen, nur manchmal gaben die Lampen noch ein leichtes Flackern ab, ein sehr schwaches Lebenszeichen. Kürzere Stromausfälle sind hier ganz normal, aber so lange war es wirklich noch nie… Zum Glück gibt es in jedem Raum einen Ventilator und eine Lampe, die von einer vom Stromnetz unabhängigen Stromquelle versorgt werden! Aber bei dauerhaft flackernden Lampen oder ganz ohne Licht (wenn auch die unabhängige Stromquelle ausfällt) sind die Studytimes am Abend und in der Nacht eher sinnlos, weil man die Notizen kaum lesen kann…
Für Tamil Nadu ist dieser frühe Beginn der Regenzeit eher untypisch, normalerweise ist sie eher im Oktober/November. Aber die Bäume haben ein bisschen Wasser nötig, jeden Abend singen wird beim Night-Prayer ein Lied mit der Bitte um Regen.
Momentan sind die 2 Klausuren-Wochen für alle Klassenstufen. Das Schuljahr gliedert sich in 3 Semester, am Schluss jedes Terms sind die Klausuren. Während der Schulzeit gibt es nur kleinere Tests, vergleichbar mit Exen in Deutschland. Einmal war ich bei einem solchen Test in Englisch dabei, die Lehrerin hat am Pult mündlich Fragen gestellt und die SchülerInnen haben die Antworten in ihr Test-book, ein Heft nur für Tests, geschrieben. Anschließend ist die Lehrerin durch die Reihen gegangen und hat direkt alle Tests auf Richtigkeit geprüft.
Die Klausuren laufen aber ähnlich ab wie in Deutschland, man bekommt ein Angabenblatt (Question Paper) und bearbeitet das auf einem Extrabogen Papier. Dass alle Klausuren hintereinander in 2 Wochen gequetscht werden, ist sehr stressig für die SchülerInnen, aber andererseits haben sie während des restlichen Semesters dafür ihre Ruhe. Für ein paar Minuten habe ich bei der Englisch-Klausur zugeschaut, weil es mich sehr interessiert hat, wie das abläuft. Die meisten SchülerInnen (mehrere Klassenstufen hatten gleichzeitig Klausur) saßen in der großen „Indigo Hall“, einem sehr sehr langen, schmalen Raum mit unzähligen Schulbänken, und die Lehrer sind durch die Gänge patrouilliert mit sehr strengem Blick. Ich habe den SchülerInnen und vor allem meinen Hostel-Girls ermutigend zugelächelt, ich wünsche ihnen ganz viel Erfolg! Unsere stundenlange Arbeit während der Studytimes soll sich bitte bitte auszahlen 🙂
Abgefragt werden in Englisch vorwiegend auswendiggelernte Texte. Daran muss ich mich immer noch sehr gewöhnen, denn das Schulsystem, das ich gewohnt bin, legt viel größeren Wert auf freies Sprechen und Schreiben. Wenn ein Text bearbeitet wird, schreibt der Lehrer Fragen und einige Sätze als Antwort an die Tafel. Für die Klausur werden die Antworten auswendig gelernt und zusätzlich noch ein Gedicht und der Text eines Entschuldigungsschreibens.
Das liegt zum Teil daran, dass viele der LehrerInnen nur sehr kurz für den Beruf als LehrerIn ausgebildet wurden und nicht nur 2-3 Fächer unterrichten, sondern z.B. der Schulleiter am Anfang des Jahres zu einem Tamil-teacher sagt: „Könnten Sie dieses Jahr nicht eine 8. Klasse in Science und eine 7. sowie eine 10. Klasse in Englisch unterrichten?“ Ich bewundere die LehrerInnen für ihre Flexibilität und Spontanität, auch wenn sie diese nicht immer ganz freiwillig zum Einsatz bringen müssen.
Dutytime für Samira Miss
Einmal pro Woche gibt es eine sehr lange Dutytime, in der Unkraut gejätet, Müll aufgesammelt und entsorgt wird. Ich habe mich diese Woche den 6. Klässlerinnen angeschlossen, die herumliegendes Plastik aufsammeln sollten. Zu viert haben wir uns über 2 h lang dem Plastik auf einem kleinen Stück Land gewidmet, das direkt neben dem Pausenhof der Schule liegt.
Auch nach 2 h lag immer noch viel herum… Da ich sehr viele Plastiktüten aus der Erde herausgezogen habe, vermute ich, dass unterhalb der Humusschicht an der Oberfläche noch ein ganzes Meer an Flaschen, Bonbonpapierchen, Stiften, Plastiktüten, Aufklebern etc. verborgen ist. Ich glaube, die Mädels der 6. Klasse haben etwas unter meinem Perfektionismus gelitten, weil ich sie auch nach dem dritten Mal Fragen: „This place finished, Miss?!“ noch zum Weitermachen aufgefordert habe. Meiner Meinung nach bringt es mehr, einmal gründlich sauber zu machen, dann hat man erstens das nächste Mal weniger zu tun und zweitens fühlen sich die Nächsten eher schuldig, neuen Plastikmüll auf ein sauberes Stück Land zu werfen, als wenn schon unzählige andere Papierchen dort liegen. Die Arbeit war wirklich anstrengend, weil man sich dauernd bücken musste und die meiste Zeit in der prallen Sonne gearbeitet hat. Aber vielleicht wird den Mädels und mir durch diese Anstrengung bewusst, dass wir weniger Plastik verbrauchen und herumliegen lassen sollten. Natürlich haben die Hostelbewohner nicht den gesamten Müll an diesem Platz verursacht (es scheint eine Art Müll-Entsorgungsplatz für alle SchülerInnen geworden zu sein), aber trotzdem kann es ein Denkanstoß sein, was den eigenen Umgang mit Plastik betrifft…
Der Müll ist hier sehr präsent, seitlich an jeder Straße (egal ob Stadt oder Land) kann man Plastik-, Papier- und Biomüll rumliegen sehen. Manchmal werden Müllsäcke auch einfach an einen Baum gehängt und der nächste, der das sieht, hängt seinen gleich mit dazu. So etwas wie eine Müllabfuhr habe ich noch nicht bemerkt, nur in Chennai habe ich oft Frauen in blauen Sarees gesehen, die als Angestellte den Müll auf den Straßen aufgesammelt haben. Der Müll aus dem Hostel wird in großen Löchern im Boden entsorgt, die zugeschüttet werden, wenn sie voll sind.
Aber die Regierung in Tamil Nadu versucht nun, die Situation zu verbessern. Ab nächstem Jahr sind Einweg-Plastiktüten so wie andere use-and-throw-Plastikprodukte verboten, auch hier an der Schule werden bereits eifrig Vorkehrungen getroffen, um plastic-free zu werden. In einem Zeitungsartikel der Zeitung „The Hindu“ habe ich gelesen, dass nun von Umweltschützern gefordert wird, auch multi-layer Plastik, das oft als Verpackungsmaterial verwendet wird, mit in den Bann aufzunehmen. Dagegen wehren sich jedoch die Plastik-produzierenden Konzerne, die neben hohen Geldverlusten dann auch zahlreiche Arbeitsplätze abschaffen müssten. Die Regierung will auch dafür sorgen, dass ein umfassendes System von Müllentsorgung und Recycling aufgebaut wird, bisher fehlt dafür noch die Infrastruktur und auch das Bewusstsein in der Bevölkerung. Aber es wird! Dieses Gesetzt ist ein Schritt in die richtige Richtung, ich bin gespannt, wie gut es funktionieren wird.
Was aber jedem von uns in Deutschland bewusst sein sollte: Nur weil man den Müll bei uns nicht in den Straßen herumliegen sieht, bedeutet das nicht, dass wir weniger Müll produzieren. Er wird nur geregelter entsorgt! Die meisten von uns wissen das auch, aber das eigene Verhalten im Alltag zu ändern, dafür reicht es dann oft nicht. Ich kenne dieses Gefühl sehr gut und doch glaube ich, noch einige Dutytimes mehr und ich werde keine Stifte, Plastikflaschen und verpackte Lebensmittel mehr ansehen können, ohne darüber nachzudenken, wo dieses Stück Plastik wohl landen wird nach dem Wegschmeißen.
Apropos Plastikflaschen: Über das Trinken aus Flaschen ist mir hier etwas aufgefallen, über das ich daheim nie groß nachgedacht habe. Wenn wir uns in Deutschland eine Flasche Wasser teilen, dann wischen wir einfach nach dem Trinken schnell den Kopf der Flasche ab und geben sie weiter. Hier ist das nicht nötig, weil keiner das Trinkgefäß mit dem Mund berührt beim Trinken. Es stehen überall Wasserkanister herum, auf denen eine Tasse steht, die jeder benutzt, ohne dass Spucke drankommt. Spülen wird überflüssig und es gibt keinen den ekligen „Spuckschluck“! Die indische Methode ist eindeutig hygienischer, wenn auch sehr anspruchsvoll. Bei dem Versuch es den Menschen in meinem Umfeld gleichzutun habe ich mich schon öfters komplett mit Wasser übergossen, v.a. im fahrenden Auto. Aber ich werde besser!
Genauso wie beim Essen mit der rechten Hand. Während es in den ersten Tagen sehr anstrengend war, mich nicht über und über mit Soße voll zu kleckern, habe ich inzwischen eine unfall-freiere Methode gezeigt bekommen. Anstatt den Kopf leicht in den Nacken zu legen und das Essen quasi von oben hereinfallen zu lassen, drückt man eine kleine Portion Essen zwischen den rechten Fingern zusammen und schiebt das ganze mit dem Daumen (wie bei einem Kuchenheber mit Anschieber :D) in den Mund. Die Zunge wird dem Essen dabei entgegengestreckt und „empfängt“ die kleine Portion im Mund. Ich habe den Dreh mit der Zunge immer noch nicht 100 Prozentig raus, aber es wird jeden Tag einfacher. Dennoch bin ich fast immer die Langsamste beim Essen, weil die Fathers und Brothers den ganzen Vorgang in einer unglaublichen Geschwindigkeit vollziehen, die ich wohl nie erreichen werde. Aber ich würde gerne mal sehen, wer bei einem Teller Spaghetti mit Tomatensoße mit Löffel und Gabel schneller ist, sie oder ich… 😀
Fauna Gracy Illam Hostel
Seit ich hier bin sind mir (neben Kühen auf den Straßen, Feldern, Müllplätzen) viele Tiere aufgefallen, die mir in Deutschland sonst nicht täglich begegnet sind. Neben erstaunlich bunten Arten von Tausendfüßlern, laufe ich nachts oft an Kröten vorbei. Wenn sich Kröten ins Hostel verirren, gibt es immer ein großes Geschrei, aber nichts toppt die Aufregung, wenn mal wieder eine kleine Schlange gesichtet wurde! Die wird so lange verfolgt, bis sie außer Reichweite der Hostelmädchen gelangt.
Statt Eichhörnchen gibt es hier hunderte Streifenhörnchen, die sehr sehr süß sind und einen total weichen, buschigen Schwanz haben (manchmal fangen die Mädels eines und zeigen es mir stolz, bevor sie es wieder laufen lassen).
Sehr präsent, vor allem in der Lautstärke, sind die Krähen, die Tag und Nacht schreien und sich begierig auf alle Essensreste stürzen, die zu Boden fallen. Konkurrenz machen ihnen dabei die wild lebenden Hunde, auf dem Schulgelände sind immer 3-4 davon und dösen vor sich hin. Sie sind sehr schreckhaft, weil sie es gewohnt sind, mit geworfenen Steinen vertrieben zu werden…
Auch im Haus leben einige Tiere, allen voran die Ameisen. Sobald man irgendetwas Essbares offen liegen lässt, wimmelt es nach einiger Zeit von Ameisen, die ihre Löcher überall zu haben scheinen. Die wohl nützlichsten tierischen Mitbewohner in meinem Zimmer sind Geckos, weil sie dafür sorgen, dass nur sehr wenige Mosquitos dort wohnen. Während der Studytimes bekommen wir immer viele Stiche, v.a. an den unbedeckten Füßen und Armen, aber zum Glück verschwinden die roten Stellen nach einem Tag gleich wieder. Letzte Woche haben außerdem 6 Affen das Schulgelände besucht! 5 ausgewachsene Tiere und ein kleines Baby machten die Dächer einen Nachmittag lang unsicher. Wir Hostelbewohner konnten kaum genug davon bekommen, sie zu beobachten, und viele schrien den Affen „Ram, Ram“ hinterher, weil diese Tiere in der hinduistischen Kultur so etwas wie göttliche Boten sind.
Die „Wilden“ im Norden
Zu Schluss noch kurz etwas zu einem ganz anderen Thema.
Neulich hatte ich ein sehr interessantes Gespräch mit dem Schulleiter der Loyola Higher Secondary School über die Unterschiede zwischen Nord- und Südindien. Seiner Meinung nach schmeckt das nordindische Essen nach gar nichts, es gebe ständig nur Dal und Kartoffeln 😀 Auch seien fast alle Menschen dort ungebildet, weil die Regierungen der nördlichen Bundesstaaten absichtlich dafür sorgen, dass die große Armut bestehen bleibt und die Bildung zu teuer ist. Trotz des großen Reichtums an Ressourcen seien die meisten Menschen arm und bekämen sehr viele Kinder. Sein Beispiel für die vermeintlich unfreundliche Art der Nord-Inder war seine Erfahrung mit Zügen in Nord-Inden: auf den Dächern seien massenhaft Menschen (was im Süden nur sehr vereinzelt vorkommt) und eine Sitzplatzreservierung würde nichts bedeuten, weil jeder freie Fleck im Zug sofort belegt wird, ohne Rücksicht auf Verluste. Er hat einmal bei einer Zugfahrt in „den Norden“ eine Gruppe von Männern eine viertel Stunde lang anschreien müssen, bevor sie von seinem reservierten Bett im Schlafabteil aufgestanden sind.
Seine Schilderungen hörten sich oft überspitzt an und waren natürlich subjektiv, aber dennoch zeigen sie, dass Indien nicht gleich Indien ist. Mein Bild der größten Demokratie der Welt war vor meinem Einsatz eine Mischung aus Eindrücken aller möglichen Landesteile. Seit ich hier bin habe ich bemerkt, dass jedes Bundesland, ja sogar jede Stadt und jeder Distrikt seine ganz eigene Kultur und Eigenheiten hat. Mein Bild von Indien wird nach meiner Rückkehr vermutlich vor allem ein Bild von Tamil Nadu sein. Ich hoffe aber, dass ich auch die Chance haben werde, einen kurzen Blick auf die weiter nördlichen Gegenden zu werfen, um mir selbst ein Bild machen zu können und nicht von den Ansichten und Geschichten anderer abhängig bin.
Vorurteile innerhalb eines Landes gibt es auch in Deutschland, wenn z.B. über den „Osten“ und den „Westen“ geredet wird. Sie können nur abgebaut (oder vielleicht teilweise auch bestätigt) werden, wenn man den jeweils anderen Landesteil besucht, Erfahrungen sammelt und die Hintergründe bestimmter Verhaltensweisen oder Gewohnheiten hinterfragt. Doch man muss sich immer bewusst sein: die Vorurteile mögen vielleicht auf viele Menschen zutreffen, doch niemals sollte man glauben, sie würden für alle Menschen einer Region gelten!