Nach langer Wartezeit melde ich mich mal wieder mit ein paar Eindrücken aus Tamil Nadu 😀
Im letzten Monat sind immer mehr Aufgaben und Veranstaltungen für mich dazugekommen, dadurch hatte ich leider nur wenig Zeit, um einen weiteren Beitrag zu schreiben. Es ist so viel passiert seit dem letzten Mal, ich versuche euch hier einen groben Überblick zu verschaffen.
„Just taste and see“
Mit diesen Worten reagierte Father Samy auf meinen entsetzten Blick, als er vor meinen Augen eine Banane mitsamt Schale verspeiste. Ich war skeptisch. All meine Lebenserfahrung sagte mir, ich sollte das besser lassen, schließlich wurde mir seit Kindertagen beigebracht, dass man Bananen schälen muss vor dem Essen. Und wer schon mal Bananenschale probiert hat, wird bestätigen, dass sie nicht sehr gut schmeckt.
ABER: ich habe gelernt, dem Father in Sachen Essen stets zu vertrauen, weil es sich meistens sehr lohnt. Er sagte, dass in der Schale sehr viele Vitamine und andere gesunde Sachen stecken, die verloren gehen, wenn ich die Schale wegschmeiße. Mit „just taste and see“ hat sich seit Beginn des Einsatzes meine Einstellung zu neuem Essen sehr geändert!
Also griff ich nach der nächstbesten Banane, schloss die Augen… biss hinein… und was für ein tolles Geschmackserlebnis! So viel Frische!
Man muss dazu sagen, dass diese Essensmethode nur bei dieser bestimmten Art von Banane möglich ist. Die Schale von „normalen“ Bananen vertragen wir nicht! Also BITTE NICHT NACHMACHEN!
Wie ich bereits im ersten großen Blogartikel geschrieben habe, gibt es in Indien von allen Arten von Essen nochmal zig verschiedene Varianten. Bei Bananen und Mangos ist das besonders auffällig, weil der Geschmack auch spürbar unterschiedlich ist! Es gibt große, kleine, dicke, dünne, gelbe, rote, süße und eher saure Bananen. Die spezielle „variety“, bei der man die Schale essen kann, ist sehr teuer und ich habe erfahren, dass es sogar Wartelisten bei den Händlern gibt, auf denen Kunden sich eintragen müssen, um in naher Zukunft diese Früchte genießen zu können! Wir haben das Glück, dass Father Samy selbst Bananenbäume dieser variety gepflanzt hat, weshalb er hin und wieder ein paar dutzend davon mitbringt.
Außerdem hat er mich neulich zu sich gerufen und mir 2 Früchte der weltschärfsten Chilli gezeigt, die man ohne Handschuhe nicht einmal anfassen sollte. Aus diesen Chillis wurde „Pickle“ hergestellt, so etwas wie eine Paste, die sehr sehr intensiv schmeckt. Irgendwie haben unsere Köchinnen es geschafft, die Schärfe in Süße umzuwandeln, und hin und wieder genießen wir das Chilli-Pickle mit Reis:)
Lehrerinnen-Ferien
Zwischendurch waren mal wieder 4 Tage frei und die HostelschülerInnen sind nach Hause gegangen. Ich habe mich dazu entschlossen in Kuppayanallur zu bleiben, um die Dinge zu tun, für die ich in der Schulzeit keine Zeit finde. Ich habe zwei meiner Lehrer-Kolleginnen besucht, die in der Nähe wohnen. Im Haus von Christina Miss gab es unglaublich leckeres Essen, sie kann schon kochen, seit sie in der vierten Klasse gewesen ist, und hat deshalb viiiiel Erfahrung!
Der orangefarbene Reis in der Mitte ist Chicken Biriyani; oben von links nach rechts: Banane, eine Brinjal-Soße, ein süßes Gebäck (rund, hellbraun und total lecker), ein gekochtes Ei, Zwiebel-Karotte-Granatapfel-Koriander-Salat mit Joghurt, Chicken 65 (eine Delikatesse!) und Ananas-Kaiseri (ebenfalls süß). Das ganze wird serviert auf einem gewaschenen Bananenblatt, das man nach dem Essen einfach zusammenklappt.
Auch mit Manimala Miss, der Lehrerin aus dem Hostel, bin ich mehr in Kontakt gekommen, denn sie und ich waren die einzigen, die geblieben sind. Vor diesen Ferien haben wir nicht wirklich viel miteinander geredet, weil ich kaum Tamil sprechen kann und sie sehr schüchtern im Englisch reden ist. Aber das Eis wurde in diesen vier Tagen gebrochen und wir werden jeden Tag mehr zu Freundinnen.
Manimala Miss, Sister Gaspar Mary und ich. Wir sind zusammen im Hostel für die Mädels da.
Insgesamt habe ich viel mehr Kontakt zu den Lehrerinnen seitdem, ich besuche sie jeden Tag im Lehrerinnen Zimmer und lerne viel über Indien, über die tamilische Sprache aber auch über das Lehrerdasein von ihnen. Ich bin sehr dankbar, dass sie mich so herzlich und offen aufnehmen!
Functions, functions, functions
(Das Wort „Function“ wird hier für Feste und Feierlichkeiten aller Art verwendet; ich habe es als Englisches Wort in diesem Zusammenhang vorher noch nie gehört, aber ich vermute es ist ein Wort aus dem Tanglischen, dem tamilischen Englisch 🙂 )
In letzter Zeit haben viele Feste stattgefunden in unserer Umgebung, ich darf mich glücklich schätzen, dass ich vielen davon beiwohnen durfte!
Da war zum einen die Einweihung der neuen Kirche in Papanallur. Als mich die Jesuiten gefragt haben, ob ich mit ihnen dorthin kommen möchte, habe ich einen kleinen Gottesdienst mit dem ganzen Dorf und vielleicht noch einen tea für alle im Anschluss erwartet. In 2h, so dachte ich, bin ich wieder daheim. Wie sehr ich mich geirrt habe! Das Fest war gigantisch groß, alles war bunt und laut und voller Lichter und Menschen. Die Straße, die zur Kirche führt, war schon zweihundert Meter vor der Kirche mit Fahnen und Lampen und Tüchern geschmückt worden, dort fand zunächst eine Prozession mit einer Marienstatue und Trommelmusik statt.
Auch aus allen Nachbardörfern sind die Menschen zu der Kirche gekommen, um das Fest mit ihrer Nachbargemeinde zu feiern. Es waren etwa 20 Priester da und der Bischof hat eine Flagge mit der Jungfrau Maria gehisst und ist als erster in die Kirche geschritten. Der Gottesdienst hat 3 Stunden gedauert. Ich hatte eine „Aufpasserin“, eine 11.Klässlerin aus der Schule, an meiner Seite, die mich ins Innere der Kirche gezogen hat. Außen gab es auch ganz viele Stühle zum Sitzen, weil bei weitem nicht alle Menschen in der Kirche Platz hatten. Ich wollte der Heimatgemeinde eigentlich den Vortritt im Innenraum der Kirche lassen, aber meine Begleitung war der Meinung, dass ich unbedingt das Geschehen aus nächster Nähe sehen muss. Und so fand ich mich plötzlich in einer Ecke der Kirche wieder, wo nur Kinder saßen. Ich bin schon im Vergleich zu Erwachsenen hier sehr großgewachsen, aber an diesem Abend kam ich mir neben den Kindern noch dreimal auffälliger und größer vor. Im Anschluss an den Gottesdienst gab es Essen, natürlich Biriyani, was sonst!
6 Stunden nachdem wir in Kuppayanallur gestartet sind, haben wir dann vom Fest aus wieder die Heimreise angetreten. Eigentlich sind es nur 20 Minuten mit dem Auto, aber wir haben fast 90 Minuten gebraucht, weil unser Tank auf halber Strecke leer geworden ist, mitten im Nirgendwo. Die Tankanzeige im Jeep ist schon länger kaputt und irgendwie war auch noch der Hebel abgebrochen, mit dem man die Motorhaube aufmachen kann. Dadurch hat es nochmal länger gedauert, aber schließlich sind wir dann doch zu Hause angekommen. Situationen wie diese haben mich gelehrt, Dinge öfter einfach so hinzunehmen wie sie sind. Sich aufzuregen hätte einfach nichts genützt sondern nur die Stimmung verschlechtert. Und so haben wir eine lustige Stunde unter den Sternen verbracht…
Ein weiteres Fest zu einem sehr traurigen Anlass war einen Tag vorher in Kuppayanallur gefeiert worden. Ein Schüler aus der 7. Klasse unserer Schule ist beim Baden in einen Wassertank gefallen und ertrunken. Seine Familie hat noch am selben Tag eine Totenaufbahrung und die Beerdigung organisiert. Da es ein Feiertag war, aber alle Lehrer für ein Meeting in der Schule waren, sind wir als große Gruppe zu seinem Haus gegangen, um bei seinem Leichnam für ihn zu beten und seiner Familie beizustehen. Es war sehr berührend und traurig, schließlich war er noch so jung. Ein paar Tage zuvor ist er vielleicht noch einem der Lehrer auf die Nerven gegangen (er war ein sehr aktiver junge, hat man mir erzählt) oder einen Baum hochgeklettert (eine seiner Leidenschaften), jetzt wird er für immer schlafen. Mich hat dieser Tag gelehrt, dass jeder Tag, den wir erleben dürfen, etwas unglaublich wertvolles und besonderes ist. Bereits jetzt durfte ich mehr Tage erleben, als der Junge in seinem kurzen Leben, das macht mich dankbar und traurig zugleich. Ich werde noch oft an ihn denken, sein Name war Sunil.
Eine Lehrerin aus dem Sekretariat ist im neunten Monat schwanger, und hat mich letzte Woche auf eine Feier in ihrem Haus eingeladen, die vorbereitend für die Geburt des ersten Kindes in jeder Familie in Tamil Nadu gefeiert wird. Die Frau wird gesegnet und es gibt ganz viele Zeremonien, die sehr anstrengend aussahen. Wie sie das im neunten Monat durchgehalten hat, ist mir schleierhaft. Sie stand z.B. 20 Minuten lang vornübergebeugt, die Hände auf drei Pötten mit Wasser abgestützt, und über ihrem Rücken wurden über ein Bananenblatt in eine Schüssel Coconut-Water, Milch und Wasser geschüttet. Jede ihrer Cousinen (und es waren viele!) hat dies dreimal gemacht, dann konnte sie sich wieder aufrichten. Diese Zeremonie soll das Kind segnen und sicherstellen, dass es ein wohlhabendes Leben führen wird. Danach zieht sich die Frau um und setzt sich neben ihren Ehemann. (Die Ehemänner in Tamil Nadu rasieren sich weder Bart noch Haare, solange ihre Frau schwanger ist, denn sie sollen keine scharfe Klinge berühren, wenn ein Kind unterwegs ist.) Das Ehepaar wird von den Gästen der Feier gesegnet, indem sie Blumen über ihnen streuen, ihnen Essen in den Mund schieben, sie an verschiedenen Stellen mit einer braunen Farbmischung oder rotem Pulver (mir wurden diese Stoffe als „sandal-colours“ vorgestellt) bemalt werden. Der Frau wird von jedem Gast ein paar Bangals (klimpernde Armreife in Gold oder allen möglichen Farben) übergestreift, sodass danach ihr ganzer Arm voller schimmernder Ringe ist. Das klimpernde Geräusch soll das Baby glücklich machen und die Bangals werden bis zur Geburt nicht mehr abgenommen. Die ganze Feier wird veranstaltet, um der Frau die Angst vor der Geburt zu nehmen. Sie soll sich glücklich und geborgen fühlen im Kreise ihrer Liebsten, das überträgt sich dann auch auf das Kind und beide sind entspannter für den großen Tag. Ich hatte das Gefühl, dass es eigentlich ganz schön stressig für die Frau bei dieser Feier ist, aber das ist nur meine subjektive Meinung. Ich stand die ganze Zeit einfach nur staunend da und habe neue Eindrücke eingesogen. Am Ende gab es, wer hätte es gedacht, Biriynai!
Children‘s Day
Am 14. November wird in Indien der Children‘s Day gefeiert, in Gedenken an den ersten Premierminister Nehru, der bekannt war für seine Nähe zu und seinen Einsatz für Kinder.
Im Gegensatz zum Teacher‘s Day im September, bei dem allein die SchülerInnen das Programm gestaltet haben, sind am 14. November die LehrerInnen an der Reihe. Den Kindern werden Süßigkeiten mitgebracht und Glückwünsche zugerufen und die LehrerInnen zeigen ihr Können auf der Bühne zur Unterhaltung ihrer students. Zwei Tage vorher wurde im Lehrerinnenzimmer verkündet, dass einige Lehrerinnen einen Tanz aufführen werden. Ich wurde sogleich überzeugt, mich dieser Gruppe anzuschließen, auch wenn ich vorher so meine Bedenken hatte. Tanzen ist nicht gerade eine meiner Leidenschaften oder Talente… Aber: Wir hatten einfach eine unglaublich lustige Zeit beim Proben und auf der Bühne!
Auch ein paar der anderen Lehrerinnen sind keine geborenen Tänzer, die Schritte wurden für uns extra einfach gehalten. Trotzdem: einen 5 Minuten langen Tanz an 2 Tagen zu lernen, ist eine Herausforderung. Den ganzen Dienstag und Mittwoch konnte man Lehrerinnen im ELT Room ein und aus gehen sehen, weil jeder, der gerade eine Freistunde hatte, zum Proben dorthin gegangen ist. Der Mittwoch (=14.November) kam und wir hatten erst zweieinhalb Minuten des Liedes mit Tanzschritten gefüllt! Irgendwie haben wir es aber noch geschafft, die zweite Hälfte am Vormittag zu lernen und am Nachmittag schon aufzuführen…
Ich wurde in einen pinken Saree gekleidet, denn zum Tanz muss man sich natürlich schick machen! Überraschenderweise war es aber gar nicht hinderlich beim Tanzen, sondern hat mir eher das Gefühl gegeben, dass ich, obwohl tamilisches Tanzen Neuland für mich ist, wenigstens ein bisschen graziös dabei aussehe:D Außerdem wurden mir Armreife und Ketten angelegt und Blumen ins Haar gesteckt.
Die Kinder haben den Tag sehr genossen, das Theaterstück der männlichen Lehrer und der Tanz der Lehrerinnen waren die Highlights des Nachmittagsprogramms. Noch eine Woche später wurde ich auf dem Gang mit „Your dance was super“ oder „Miss, you on Wednesday in Saree? Very nice!“ begrüßt. Die Hauptsache ist, dass die Kinder Spaß hatten, kleine Patzer sind in der allgemeinen Hochstimmung gar nicht aufgefallen 🙂
In der Zeitung habe ich gelesen, dass am Children‘s Day 40 Kinder aus sehr armen Familien in Tamil Nadu die Chance erhalten haben, zum ersten Mal in ihrem Leben (vielleicht auch zum letzten Mal… ) in einem Flugzeug zu fliegen. Sie sind von Chennai nach Madurai und wieder zurück geflogen und während des Flugs war ein bekannter tamilischer Schauspieler zur Unterhaltung mit dabei. Diese Veranstaltung wurde von der Regierung organisiert, teilweise auch als Prestigeprojekt zu Wahlkampfzwecken… Dennoch hatten die Kinder bestimmt einen unvergesslichen Tag!
Das ELT-Programm
Alle SchülerInnen der 6. bis 8. Klassen sind Teil des English Language Teaching (ELT) Programms, das in den Schulen im Rahmen des Englisch Unterrichts praktiziert wird. Jede Woche gibt es zwei extra Englisch Stunden, die zur Vertiefung und Anwendung des Lernstoffes gedacht sind (es gibt sogar ein separates ELT-book für alle SchülerInnen). Zusätzlich werden die Klassen in Teams aufgeteilt (z.B. yellow, indigo, red, green, orange) und sammeln im Unterricht Punkte. Jeden Tag gibt es ein Pouch word, eine Vokabel, die an diesem Tag an einer Karte ans Revers geheftet wird und gelernt werden soll. Dreimal im Jahr gibt es die ELT-Assembly, bei der das Programm ausschließlich von ELT SchülerInnen und LehrerInnen gestaltet wird. Diese Woche war die zweite ELT Assembly in diesem Schuljahr, und ich habe mit einigen SchülerInnen den Prayer Song und einen kleinen Sketch vorbereitet. Außerdem gab es einen Action Song (When you‘re happy and you know it, clap your hands…), eine Lesung aus der Bibel, dem Koran und einem heiligen Buch der Hindus, eine Conversation über das Fällen eines Neem trees, eine Geschichte auf Englisch, eine Rede, etc. etc.
Das meiste hat gut funktioniert und vor allem wir Lehrerinnen waren froh, als es endlich geschafft war! Wir haben bei jedem Satz mitgefiebert und mitgelitten, wenn jemand seinen Text vergessen hat:)
Seit einigen Wochen testen wir außerdem die Idee, wöchentlich ein Quiz-Programm für die ELT Klassen anzubieten. Wir haben mit der 8. Jahrgangsstufe angefangen und jetzt wechseln sich 6., 7. und 8. Klasse jede Woche ab. Bei dem Quiz werden 50 Vokabeln spielerisch abgefragt, die in der Woche vorher gelernt wurden. Die Klassen spielen innerhalb ihrer Jahrgangsstufe gegeneinander und sammeln Punkte. Da in jeder der Klassen ein bis zwei meiner Hostel Mädchen sind, kann ich mich nie entscheiden, für wen ich mitfiebern soll, aber es ist einfach schön zu sehen, mit wie viel Eifer die SchülerInnen dabei sind!
Das ELT-Programm trägt eindeutig Früchte, meine 8. Klassen sind viel enthusiastischer und aufgeweckter im Englischunterricht als die 9. Klassen, die das ELT-Programm nicht mehr mitmachen. Obwohl auch sie die letzten drei Jahre ELT-Englisch gelernt haben, trauen sie sich viel weniger in Englisch zu sprechen, als die 8. Klassen, die noch im Programm involviert sind. Das ist schade, finde ich!
Special Classes
Für eine Woche hatten wir an der Schule einen besonderen Gast. Ein Psychologie Professor mit einer speziellen Ausbildung in besonderen teaching-Methoden hat SchülerInnen, die Probleme mit dem Lesen oder der Rechtschreibung haben, das tamilische Alphabet und das Zusammensetzen von Wörtern spielerisch beigebracht. Er hat vieles über Lieder gemacht, außerdem mussten sich die SchülerInnen ständig bewegen, was ihnen sehr viel Spaß gemacht hat. Die 247 tamilischen Buchstaben hatte er auf Plättchen gedruckt und die mussten dann sortiert werden. Eine weitere Methode war, dass die Kinder am Ende des Unterrichts eine Buchseite aus einem ihrer Schulbücher laut (und mit laut ist wirklich sehr laut gemeint) vorlesen, und zwar alle gleichzeitig im Raum verteilt. Es hat sich angehört als wäre die halbe Schule im Raum und würde sich lautstark unterhalten, aber so wurde ihnen die Angst genommen, Fehler zu machen.
Dieser spezielle Unterricht wurde für ausgewählte SchülerInnen der 7. bis 10. Klasse angeboten, sogar an den zwei Feiertagen der Woche sind die SchülerInnen und LehrerInnen zu Professor Perumal gekommen. Die LehrerInnen waren abwechselnd mit bei den Special classes dabei. Zum einen zum Mithelfen und zum anderen um zu beobachten, wie Unterricht auch ausschauen kann.
Mich hat zuerst schockiert, dass es auch in der zehnten Jahrgangsstufe noch SchülerInnen gibt, die nicht lesen und schreiben können. Ich habe mich gefragt, wie sie es bis in diese Klasse geschafft haben, wenn sie bei den Klausuren nicht einmal die Fragen lesen, geschweige denn eine Antwort hinschreiben können. Aber im tamilischen Schulsystem kann man bis zur zehnten Klasse nicht durchfallen. Auch wenn man in allen Klausuren unterpunktet, wird man weitergeschickt in die nächste Jahrgangsstufe. Die Probleme werden dadurch nicht gelöst, sondern eher immer weiter aufgeschoben, das sehe ich und sehen auch viele der LehrerInnen sehr kritisch.
Apology letters
Ich habe in meiner ersten Woche hier zum ersten Mal etwas von einem „Apology letter“ gehört, nachdem zwei Siebtklässlerinnen im Hostel zu spät zur Studytime gekommen sind. Ich habe sie auf dem Boden sitzen und einen Brief schreiben sehen und sie gefragt, was das ist. „Apology letters, Miss“ „For the Sister, we came late so we write“. Was ich am Anfang noch für einen Scherz gehalten habe, ist keineswegs unüblich in Tamil Nadu. Täglich müssen in der Schule ganze Horden von Jungen und Mädchen ihre apology letters vom Schulleiter unterschreiben lassen, weshalb vor seinem Büro immer eine lange Schlange steht. Auch LehrerInnen müssen sich schriftlich entschuldigen, wenn sie etwas falsch gemacht haben (von mir wurde für einen Fehler noch nie ein Brief verlangt, ich glaube ich habe als Ausländerin da eine Sonderrolle).
Alle apology letters von SchülerInnen und LehrerInnen werden wie in einer Akte über jeden einzelnen gesammelt, und können jederzeit für oder gegen die jeweilige Person verwendet werden. Im Hostel werden die Mappen mit den apology letters den Eltern gezeigt, wenn sie zu Besuch kommen.
Erst dachte ich, dass die Apology letters nur an der Schule so gehandhabt werden, bis ich in Chennai erfahren habe, dass auch am College und in Firmen das apology letter Schreiben Gang und Gebe ist. Einmal wurde mir sogar eine Geschichte von einem Unfall erzählt, bei dem ein Fußgänger aus Versehen einen Fahrradfahrer zu Fall gebracht hat. Die Polizei hat zu dem Fußgänger nur gesagt „write an apology letter to him, then you can go home, it is not a big deal“.
Apology letters sind hier so alltäglich, aber ich finde trotzdem, dass es nicht so viel bringt, einen Brief als Entschuldigung abzugeben. Das wird niemanden davon abhalten, den Fehler nochmal zu begehen. Eine mündliche Entschuldigung direkt ins Gesicht des Betroffenen ist viel schwieriger und hinterlässt auch mehr Wirkung, als ein Brief. Wenn ich wütend auf jemanden bin, können mich doch ein ehrlich gemeintes „I am really sorry“ und vielleicht noch ein paar erklärende Worte viel eher besänftigen, als ein formeller Brief mit Unterschrift. Andererseits ist ein Brief natürlich offizieller, als eine mündliche Entschuldigung, also können beide Seiten sich darauf berufen, sollte es wieder Probleme geben.
Ein Apology letter besteht aus der Überschrift „Apology letter“, Name und Anschrift von Verfasser und Empfänger, einem kurzen Text über das Vergehen/den begangenen Fehler und den Unterschriften von Verfasser und Empfänger (in der Schule zusätzlich auch noch der Schulleiter).
Liebe Samira,
danke, dass du mal wieder deine interessanten Eindrücke mit uns teilst.
Die landestypischen Gewänder stehen dir übrigens sehr gut. 😉
Vorweihnachtliche Grüße sendet Susanne